India Reloaded

India Reloaded

März 2023. Es war eine Neubegegnung. Vor 40 Jahren haben meine heutige Frau und ich Indien bereist – als Backpacker on the cheap. Heute sind wir zurückgekehrt mit der Erfahrung eines ganzen Lebens und den Anregungen eines indischen Freundes in Deutschland.

Unsere Ziele waren: Chandigarh, die moderne Hautstadt des Punjab / Amritsar, das religiöse Zentrum der Sikhs und Schauplatz mehrerer Massaker / Mcleodganj, der Sitz des tibetischen Dalai Lama im indischen Himalaya.

Ich berichte unsere Erlebnisse aus der Sicht eines Investors. Alles ist subjektiv dargestellt und nicht statistisch erhärtet.

 

Gesellschaft

Indien verfügt über eine bunte Presselandschaft. Es gibt hochwertige Wirtschaftszeitungen mit Finanzteilen auf Weltniveau. Ich lese „Economic Times of India“. Sie bieten auch ein Morning-Briefing wie das Handelsblatt. Nur der Cartoon ist in Indien besser. https://economictimes.indiatimes.com/prime

Die Inder sind Demokraten. Sie sind gut informiert, bilden sich eine eigene Meinung und können diese engagiert diskutieren. Problematisch sind Gerüchte, die besonders in den sozialen Medien gestreut werden. Diese Fake News können zu gewalttätigen Ausbrüchen führen. Der Staat greift bei möglicher Desinformation ein, was allerdings die Pressefreiheit einschränkt. Die Alternative, bürgerkriegsähnliche Unruhen, wäre auch nicht besser.

Frauen werden gefördert. Wir haben selbstbewusste und kompetente Frauen gesehen. Ihren männlichen Kollegen helfen sie oft auf die Sprünge. Auch beeindruckenden Chefinnen sind wir begegnet. Am Straßenverkehr nehmen die Frauen mutig teil. Wir haben erlebt, wie Frauen einen gefährlichen Rikschafahrer minutenlang laut ausgeschimpft haben. In hippen Cafes sind die Frauen kein Beiwerk, sondern gleichberechtigte Gesprächsteilnehmer. … Auf Massenvergewaltigung steht die Todesstrafe. Es wird allerdings gerade diskutiert, ob man das Hängen durch eine schmerzfreiere Variante ersetzen könnte.

Minderheiten genießen Sonderrechte. Programme fördern die Unberührbaren. Manchmal gelangen sie sogar in bessere Positionen.

 

Mentalität

Inder sind freundliche und hilfsbereite Menschen. Sie weisen einem gerne den Weg und bieten ihre Unterstützung an. Allerdings sind die Informationen manchmal falsch und Hilfe kann katastrophale Folgen haben. Es geht wohl mehr um die freundliche Zuwendung. Einen Deutschen kann das wahnsinnig machen. Wir haben uns angewöhnt, mindestens zwei Inder unabhängig das Gleiche zu fragen. Unsere Probleme haben wir lieber selber gelöst.

Es gibt im Land eine sehr große Diversität. Über 300 Sprachen werden gesprochen. Hindi können alle, Englisch die Gebildeteren. Besser als bei den Deutschen ihr Englisch allemal. Jede Bevölkerungsgruppe hat ihre eigene Geschichte. Manchmal sind sie in der Vergangenheit furchtbar aneinander geraten.

Inder folgen inbrünstig vielfältigen Religionen. Das kann durchaus harmonieren, da die Religiosität additiv funktioniert. Buddha wird zum Gott erklärt und steht auf dem heimischen Altar neben Lord Ganesha. Auch Jesus kann sich gegebenenfalls dazu gesellen. Eine streng monotheistische Religion kann im Land jedoch zu Unruhe führen. Das gilt besonders für den Islam. Aber die Hindus haben gelernt, sich gegen monotheistische Vergewaltigung zu wehren. Heute fühlen sich die Monotheisten in Indien benachteiligt und verfolgt. Das stimmt wahrscheinlich auch. Die Sikhs haben mit ihrer Religion aus dem 16. Jahrhundert versucht, eine Brücke zu bauen. Das ist ihnen leider nicht gelungen. Sie wurden auch zeitweise unterdrückt. Man brauchte die Sikhs aber an der Grenze, da sie gute Techniker und Soldaten sind. Uns Europäern kann der rationale Sikh-Glaube sympathisch sein.

Beunruhigend ist, dass der Hindunationalismus zunimmt und auch gewalttätige Züge annehmen kann. Besonders an der Person Modis scheiden sich die Geister. Er könnte sich zu einem Autokraten vom Stile Erdogans entwickeln.

Das Besondere in Indien ist, dass Diversität und Zusammenhalt keinen Gegensatz bilden. Unterschiedliche Neigungen können durchaus nebeneinander stehen. Manchmal leben sie auch einfach nebeneinander her – wie die Kühe und die Autos auf den Straßen. Es gibt aber auch soziales Engagement. Und das kommt nicht von westlichen Entwicklungsorganisationen, sondern von Indern selbst. Ich erinnere nur an die Mikrokredit-Bank von Muhammad Yunus in Bengalen.

Wie Diversität und Zusammenhalt zusammen funktionieren, spiegelt sich auch in der Persönlichkeit der Einzelnen. Inder sind kreativ – schon allein wegen der allgegenwärtigen Armut. Aber sie haben auch Familiensinn. Allein zu reisen oder zu leben, käme ihnen nicht in den Sinn.

In Chandigarh hat ein kauziger Inder begonnen, aus Bauschutt Kunst zu machen. Seine Installationen baute er illegal auf einem wilden Grundstück auf. Die Stadt fand das nach einiger Zeit richtig gut und stellte ihm Geld, Helfer und mehr Platz zur Verfügung. Heute ist sein Rock Garden die Hauptattraktion Chandighars und die G20-Delegationen werden dort hin geführt.

 

Demographie

Die Überbevölkerung hängt wie ein Mühlstein an Indiens Hals. Überall sind Menschen. Die Landschaft ist zersiedelt. Armut allgegenwärtig. Allerdings haben in unserer Beobachtung die Slums in Indien abgenommen. Es gibt sinnvolle Bauprojekte in wild gewachsenen Ansiedlungen. Weniger Menschen leben auf der Straße. In Chandigarh gibt es sogar kaum Bettler. Vielmehr gehen die Einzelnen ihren eigenen Geschäften nach. Auch wir Europäer sind wesentlich uninteressanter geworden. Schließlich geht Indien seinen eigenen Weg.

Wo gearbeitet wird, lungern vier herum, wo bei uns einer arbeiten würde. Immerhin haben so viele Menschen Beschäftigung. Effektivität hat für einen Inder eine geringere Bedeutung.

Gut sichtbar ist aber auch die neue Mittelschicht. Immer mehr Inder fahren gute Autos. Sie gehen in Cafés, die fast so teuer sind wie unsere. Sie bilden sich und schicken ihre Kinder auf die Universität. In Clubs leben die Reichen so wie die Briten früher. Beim Aufstieg kommt den Indern zu Gute, dass sie fähige Geschäftsleute sind.

Wir waren in unserem Alter, Mitte 60, überall mit Abstand die Ältesten. Das war für uns eine ungewohnte Erfahrung. Überall gab es auch smarte junge Leute. Sie waren durchweg halb so alt wie wir. So sind wir Indiens Zukunft begegnet. China und Japan werden durch ihre Demographieprobleme gebremst. Indien wird in Zukunft für manche positive Überraschung gut sein.

 

Umweltbelastung

Überall ist es dreckig in Indien. Und das, obwohl immer wieder gefegt und geputzt wird. Die Materialien sind einfach oft alt und das Vorgehen gegen den Schmutz ineffektiv.

Besonders schlimm ist der Müll. Er liegt überall herum. Mülldeponien scheint es nicht zu geben, wohl aber Orte, wo der Müll hin gekippt wird. Dann wird einfach Erde darüber gemacht und die Ärmsten errichten dort ihre Hütten. Außerdem leben Hunde, Affen und Kühe von dem Müll. Wasserflaschen aus Plastik werden massenhaft leergetrunken und dann einfach weggeworfen. Immerhin – ich habe eine Aufschrift auf einer Wand gefunden: „Every bottle lasts 5 Minutes to drink and 450 years to dissolve“. Einsicht scheint da zu sein.

Der Verkehr hat stark zugenommen. Auf zweispurigen Straßen fährt man dreispurig und dazwischen laufen noch Fußgänger herum. Vor allem die Kühe leben sicher auf den Straßen. Dennoch geschehen überraschend wenig Unfälle. Das hat weniger mit staatlichen Regelungen oder Rücksicht zu tun. Wer einen überfährt, wird auf der Stelle tot geschlagen. Die Hupe wird neben dem Gaspedal am meisten bedient. Dementsprechend hoch sind die Schallemissionen. Die Luftqualität hat sich dennoch verbessert. Es gibt nämlich kaum noch Zweitakter. Die Autos sind neuzeitlich und E-Rickschas nehmen zu. Sogar die ein oder andere Ladestation für E-Autos habe ich gesehen.

Der Klimawandel macht sich mit zunehmender Wasserknappheit bemerkbar. Die Grundwasserspiegel nehmen ab. Vielleicht fließt auch weniger Wasser aus den Höhen des Himalayas ins Land. Starkregen führen zu Überschwemmungen. Müll und Unrat bedrohen das Trinkwasser.

Klimaneutralität ist auch in Indien ein Ziel. Allerdings werden noch 90% des Stroms aus Kohle erzeugt. Die erneuerbaren Energien liegen noch im einstelligen Prozentbereich. Dabei ist Indien wie geschaffen für Photovoltaik. Auf jedem Dach könnten Solarzellen prangen, die in eigenen Fabriken hergestellt werden.

 

Wirtschaft

Das größte Hindernis für die Wirtschaft Indiens ist die Bürokratie. Wer sich in Deutschland darüber ärgert, kommt in Indien an seinen persönlichen Siedepunkt.

Wir haben ein Architektur-Museum besucht. Der Eintritt kostete 25 Cent – sehr sozial. Hinter dem Tresen saßen drei Leute. Der Ticketkauf wurde in ein Journal eingetragen. Die Eintrittskarte wurde mit mehreren Eintragungen gefüllt. Dann wurden Unterschriften geleistet. !!!!!

Ein wohlhabender Bekannter wollte auf seinen Ländereien Solarmodule aufbauen. Eine Genehmigung zu bekommen, war schwierig. Es hat sich auch einfach nicht rentiert. Energie ist billig in Indien und es lohnt nicht, Strom ins Netz einzuspeisen. Er hat einen riesigen Wasserbehälter für seine Felder angelegt. Den speist er aber nicht mit Regenwasser vom Dach des benachbarten Gebäudes sondern aus der Wasserleitung.

Dafür ist die Digitalisierung weit fortgeschritten. Funklöcher gibt es nicht. Jeder Inder besitzt ein Smartphone und nutzt es eifrig. Alles kann online geordert und bezahlt werden. Paytm hat fast jeder Laden und jedes Taxi. Unsere Reise nach Indien haben wir komplett online und papierlos organisiert. Das gilt sogar für das e-Visa.

Die indische IT-Expertise ist weltberühmt.

Indien ist aber auch die Apotheke der Welt. Viele Medikamente – auch bei uns – kommen aus Indien.

Es gibt Medizin auf höchstem Niveau. Man muss sie nur bezahlen können. Wir kennen Menschen aus Tansania, die sich in Indien haben operieren lassen.

Indien hat eine eigene Autoindustrie aufgebaut. Die Wagen haben angepasste Technologie – „rough and tough“, wie ein Taxifahrer sagte. Die Flughäfen funktionieren reibungslos. Indische Fluggesellschaften fliegen mit neuen Maschinen.

Fast alles wird in Indien selber hergestellt. Das ist auch der Abschottung der Wirtschaft geschuldet. Man hat bisher vermieden, dass ausländisches Kapital das Land überschwemmt und Produktionen zu Gunsten anderer Länder aufbaut.

Aus all diesen Gründen haben es ausländische Investitionen in Indien schwer. Wie es möglich sein soll, Produktionen aus China nach Indien zu verlegen, ist mir schleierhaft.

Es gibt einen erheblichen Braindrain. Überall wird für in Indien für Auslandsstudien geworben. Indische Spezialisten arbeiten in allen Industrieländern und werden dort gerne gesehen. Manche indischstämmige Menschen sind in höchste Ämter aufgestiegen. Ich denke an Kamala Harris, Rici Sunak oder Anshu Jain. Sie alle fehlen natürlich mit ihrem Können in Indien. Andererseits entstehen durch die Auslandsinder Kapitalzuflüsse und internationale Kontakte, die helfen, das Land weiter zu entwickeln. Wir haben an den heiligen Stätten mit einigen Auslandsindern gesprochen, die regelmäßig ihre Heimat besuchen und dorthin Kontakte pflegen.

 

Kolonialerbe

Indien ist erst seit 1947 unabhängig. Damit ging es vielen ehemaligen Kolonialländern voran. Es hat aber auch erst gut 70 Jahre Zeit gehabt, sich unabhängig zu entwickeln.

Die Briten haben erhebliche Altlasten hinterlassen.

Das Prinzip „Divide and Rule“ hat die gesellschaftlichen Spannungen bis heute verschärft oder erst geschaffen. Einige hunderttausend Briten haben es geschafft, Millionen Inder zu beherrschen, indem sie sie gegeneinander ausspielten.

Willkürlich gezogene Grenzen gegenüber Pakistan und China haben zu Kriegen geführt. In einigen Regionen gibt es bis heute Grenzkonflikte und separatistische Aufstände.

Besonders der Punjab wurde willkürlich zwischen Pakistan und Indien aufgeteilt. Millionen Menschen flohen 1947 in beide Richtungen. Hunderttausende sind dabei gestorben. Die Neuankömmlinge saßen in den Ruinen der jeweils anderen Seite. Es kam deshalb zu Hungersnöten. Nation Building ist eine Herkulesaufgabe bis heute. Versöhnung versinkt in der Bitterkeit über das eigene Schicksal.

Aber die Briten haben auch Gutes hinterlassen

Die Eisenbahn funktioniert bis heute. Sie ist wahrscheinlich verlässlicher als die Deutsche Bahn und im Buchungssystem voll durch-digitalisiert.

Das britische Schulwesen mit seinen Schuluniformen integriert und bildet die Gesellschaft.

Demokratische Strukturen haben die Inder von den Briten gelernt. Im Freiheitskampf nutzten sie die Presse und die Meinungsfreiheit in England, um sich verständlich zu machen. Gewaltfreie Aktionen, die in den Medien um die Welt gingen, haben entscheidend dazu beigetragen, dass die Briten sich aus Indien verabschiedeten. Heute ist UK eine beliebte Wahlheimat für Auslandsinder.

Nicht zuletzt hat der Unabhängigkeitskampf die Inder gelehrt, dass sie sich auf sich selbst verlassen können. Sie nehmen ihr Schicksal seitdem entschieden selber in ihre Hände. Die Ergebnisse sind nicht perfekt, aber sie beruhen auf ihrer eigenen Leistung. Es geschieht eben auf ihre Art in „The India Way“.

 

Außenpolitik

Ein ganz neues Kapitel ist die indischen Außenpolitik. Traditionell gehört Indien zu den blockfreien Staaten. Es hat sich Einflüssen aus der UDSSR und der USA geöffnet. Von jedem hat Indien versucht, das Beste zu bekommen. Zu China stand es stets in einem Konkurrenz-Verhältnis, soweit sich die Länder überhaupt begegneten.

2030 wird Indien zur drittgrößten Wirtschaftsmacht der Erde aufsteigen. Damit erwächst dem Land internationale Verantwortung. Seine Rolle im Konzert der Mächte, muss Indien noch finden. Mit dem diesjährigen Vorsitz der G20 kann Indien Akzente setzen.

Indien hat der Welt etwas zu geben. Seine Tradition von Diversität und Zusammenhalt kann ein Modell für die multipolare Welt von heute sein. Ich würde mich freuen, das zu erleben.

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